“Nennen wir es Revolution?" 30 Jahre Herbst ’89
Workshop-Tag
Das 41. Jahr der DDR beeinflusste uns: die Erfahrung von der Endlichkeit gesellschaftlicher Systeme, der kurzen, aber intensiven Öffnung von Alternativen als auch die Erfahrung des Scheiterns. Der Herbst ’89 war ein Zusammenkommen von verschiedenen Menschen mit einer Vielzahl linker, emanzipatorischer Ideen und Projekte. Sei es spontan selbstorganisierend oder in bereits tätigen oppositionellen Zusammenhängen: ob in Umweltbibliotheken, Umweltbewegung, unabhängigem Frauenverband, als Feministinnen, “Kirche von unten”, in Friedenskreisen, als Kunst- und Literaturengagierte, im Neuen Forum, in der "Initiative für eine Vereinigte Linke”, als Antifa-Bewegte, Hausbesetzer*innen und viele, viele mehr.
Dieser gesellschaftliche Umbruchsmoment prägte uns. Uns, Linke aus dem Osten ganz unterschiedlicher Generationen. Um die Gegenwart zu begreifen, wollen wir die rebellische Geschichte des Ostens befragen: Was können wir für heute und für die Zukunft lernen? Welche Bedingungen gab es? Welche Aktionsformen wurden gewählt? Und wie wurde mit dem Scheitern von linken Alternativen zum Realexistierenden Sozialismus und Kapitalismus umgegangen? Denn der Umbruch erzeugte auch tiefe Konflikte und rassistische und neonazistische Übergriffe in den 90er Jahren.
In Vorausschau auf “30 Jahre Herbst ’89” im kommenden Jahr, wollen wir Dich am 03. November 2018 zu einem Tagesworkshop einladen. Wir wollen uns die Fragen stellen: An welche Ideen wollen wir anschließen? War es eine “Revolution” und wie lange? Wann endete sie? Was können wir für die Zukunft von diesem Umbruch lernen?
Beginnen wollen wir mit einem Blick zurück, ohne in der Vergangenheit kleben zu bleiben. Wir wollen uns über gemeinsame Anliegen und inhaltliche Ausgangspunkte für mögliche öffentliche Aktionen im nächsten Jahr verständigen. Bringt Eure Ideen mit.
Programm
10 Uhr “Wo warst du im Herbst ’89?”
11 Uhr Panels
(I)Der Blick von unten auf `89er Versuche basisdemokratischer Selbstorganisation
(II)Linksradikale Organisierung zwischen Selbstverwirklichung und Systemfrage
(III)Aufbruch oder Niederlage: Sichtweisen auf 89ff aus Ost und West
(IV) Weibliche Gegenmacht 89/90 – Allein gegen alle?
(V)Repression, Gegenöffentlichkeit & Zensur
(VI)DDR-Opposition, Mehrheitsgesellschaft und Hegemoniewechsel
13 Uhr “Was soll 2019 erzählt werden?”
14 Uhr Pause
15 Uhr Anliegen für 2019 erarbeiten
17 Uhr Konkrete Verabredungen & Arbeitsüberlegungen
19 Uhr Ende
Es wird um Anmeldung unter 30jahreherbst89@systemli.org gebeten.
Es wird auch eine Kinderbetreuung geben, wenn ihr dafür Bedarf habt. Schreibt dies bitte in die Anmeldung mit hinein.
Workshop-Themen
(I)Der Blick von unten auf `89er Versuche basisdemokratischer Selbstorganisation
“Der Blick ist in diesem Panel auf die Vorgänge in der Mehrheitsgesellschaft gerichtet, in der sich seit dem Sommer 1989 erster Widerstand gegen das Regime regte, der im Herbst über Massendemonstrationen in zahlreichen basisdemokratischen Gruppen und Initiativen mündete. Obwohl das Ausmaß dieser Bewegung das der oppositionellen Gruppen um das Tausendfache überstieg und diese "Massen" der entscheidende Akteur der Revolution wurden, kommen sie in der Einnerung namentlich radikaler Linker kaum vor. Im Mittelpunkt dieses Panel geht es nicht um die Erwartung und Binnenkonflikte der organisierten »dissidenten Gruppen« in der späten DDR, sondern um diese freigesetzten Prozesse der kollektiven und gesellschaftlichen Selbstorganisation, die zum Teil einfach in dem Maße im Nahraum der Alltagswelt notwendig wurden, um das Herrschafts- und Machtsystem der SED zu stürzen. Anderseits ging es immer auch um mehr: Um eine Gesellschaft jenseits der »gesellschaftlichen Gängelung« durch die Nomenklatur der Apparate der herrschenden Staatspartei zu begründen. Dieser Übergang “von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität“ einer kritischen Masse der Bevölkerung überholte den relativ überschaubaren Kreis der politisch organisierten Dissidenz. Exemplarisch betrachtet werden sollen die vielen, kleinen und lebensweltlichen Umbruchsdynamiken “in ihrer unorganischen Komplexität“ quer und neben den später so bezeichneten »Bürgerbewegungen« im engeren Sinne.
- In einem ersten Schritt soll sich an die damalige Situation, Voraussetzungen und erlebte Phasenverläufe angenähert werden. Wo wurde in der Republik demonstriert, gestreikt oder protestieret? Wer waren die Akteure? Und was forderten sie? Wie muss mensch diesen Lernprozess in den hunderten von Initiativen und Aktionen, der nach 40 Jahren stillgelegter Zivilgesellschaft begann, beschreiben?
- Beispielhaft werden solche Vorgänge an den Gründungen von Basisgruppe und an der gewerkschaftlichen Basis, die Versuche von Soldatenräten in der NVA, Hausbesetzungen und kollektive Wohnprojekte oder die Rolle von bündelnden stadtteilpolitischen Projekten (Wir bleiben alle!) betrachtet werden, auf die sich die radikale Linke zum Teil noch heute bezieht.
- Diese subjektiven Erfahrungen mit Momenten der gesellschaftlichen Selbstorganisation waren nicht folgenlos. Aber die Erinnerung der »revolutionären Demokratie der Straße und Betriebe« muss sich heute sowohl gegen die Erzählungen der vermeintlichen Alternativlosigkeit einer »nachholenden Parteiendemokratie des liberalen Palarmentarismus«, wie gegen die nationalistische Vereinnahmung der radikalen, Rechtsautoritären behaupten.
(II)Linksradikale Organisierung zwischen Selbstverwirklichung und Systemfrage
Autonome, antifaschistische, linksradikale, anarchistische Gruppen und Initiativen gab es auch in der DDR. Sie haben nicht nur gegen Neonazis protestiert, sondern ebenso gegen den autoritären SED-Staat. Erst 2017 wurde die Geschichte ostdeutscher Antifa-Gruppen vor und nach der Wende durch den Sammelband „30 Jahre Antifa in Ostdeutschland“ und einer gleichlautenden Tagung wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglicher gemacht.
Doch das Wirken vieler dieser Gruppen in der „Wendezeit“ ist weithin unbekannt. Wenn wir auf „30 Jahre Herbst 1989“ zurückblicken, stellt sich folglich die Frage, wer die Linksradikalen von damals eigentlich waren und was wie bewegte? Allein diese kleine politische „Landschaft“ war vielseitig geprägt, sei es durch die Autonome Antifa, FAU-DDR, Kirche von Unten, HausbesetzerInnen, 13.Autonome Gruppe oder durch den „Revolutionären Autonomen Jugendverband“.
Deren damaligen Diskussionen um die gesellschaftliche, politische und ökonomische Zukunft lassen sich als Richtungssuche zwischen Selbstverwirklichung der persönlichen Lebenswelt – des eigenen „kleinen Nachttischs“ – und Systemfrage in der ausgehenden DDR beleuchten. Die linksradikale Gruppen setzten vor allem auf autonome und lebensweltliche Gestaltung und lehnten sowohl Parteien als auch größere Organisationstrukturen, wie die neu entstandene Initiative für eine Vereinigte Linke(IVL), ab. Aber wie genau sahen ihre Utopien, Handlungsweisen und Konflikte aus und was können wir daraus für die Gegenwart lernen?
Wir wollen in diesem Panel gemeinsam auf die Suche nach den Standpunkten und Praxen der linksradikalen Gruppen von damals gehen und diskutieren, welche Bedeutung dies 30 Jahre später für unser eigenes und kollektives gesellschaftspolitisches Engagement hat. Dabei sollen die folgenden, „epochenübergreifenden“ Leitfragen Orientierung geben:
- Warum setzten die linksradikalen Gruppen stärker auf Autonomie, anstatt Teil größere Organisationsstrukturen zu sein?
- Was hat sich in der Zusammenarbeit mit Großorganisationen und Parteien zu damals verändert?
- Welche politischen Utopien gab es, und was ist mit diesen nach der „Wende“ passiert?
- Spielen diese Utopien heute noch eine Rolle und welche neuen Utopien sind entstanden?
- Warum wird die Systemfrage von großen Teilen der radikalen Linken heute kaum noch gestellt?
- Sollte wir uns aufgrund des gegenwärtigen Rechtsrucks wieder stärker der Systemfrage widmen und wenn ja, wie kann das praktisch geschehen?
(III)Aufbruch oder Niederlage: Sichtweisen auf 89ff aus Ost und West
Die 89ff eröffneten im Osten für viele und an vielen Orten Freiräume, die auch von Linken genutzt wurden. Überall in der EX-DDR entstanden unabhängige Initiativen, wurden alternative Jugendzentren eröffnet, Häuser besetzt. Trotz ökonomischer Kolonisierung, Massenarbeitslosigkeit und Nazi-Terror waren die 89 ff auch die Jahre der Selbstermächtigung und Selbstorganisierung. In Westdeutschland dagegen steht 89 vor allem als Synonym für Konterrevolution, nationalistischer Zurichtung und einer Niederlage der Linken.
In dem Workshop wollen wir die Diskussionen aus den Jahren 89ff in Erinnerung rufen und der Frage nachgehen, inwieweit diese unterschiedlichen Sichtweisen die heutige Auseinandersetzung mit der Spezifik Ostdeutschlands prägen und einer gemeinsamen Analyse der aktuellen Entwicklung im Wege stehen.
(IV)Weibliche Gegenmacht 89/90 – Allein gegen alle?
Bereits zu Beginn der 80er Jahre hatten sich Frauengruppen in der DDR gegründet, weil Frauen nicht mehr einverstanden waren: mit der Umsetzung der proklamierten Gleichberechtigung, mit der Ausweitung der Wehrpflicht bei Mobilmachung auch auf Frauen und der allgemeinen „Friedens“erziehung in Kindergarten und Schule. Sie wollten verstehen, was geschieht und gemeinsam dagegen etwas unternehmen. Der parteinahe DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) entsprach mit seiner Politik nicht ihren Vorstellungen und so trafen sich im Dezember 1989 Frauen aus der ganzen DDR in der Berliner Volksbühne, um über die Gründung eines eigenen Bundes zu diskutieren.
Vor der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes jedoch unternahmen einige Frauen den Versuch, ihre politischen Vorstellungen, die sich vor allem um die Gleichstellung der Geschlechter drehten, auch in den neugegründeten Bürgerbewegungen des Herbstes 89 zu verankern.
Wir wollen im Panel verschiedenen Fragen nachgehen, die sich im Wesentlichen mit der Auseinandersetzung mit der Emanzipation der Geschlechter in den Reihen der linken, alternativen Bewegung(en) beschäftigen. Dabei sind folgende Themen vorgeschlagen, die sich von unterschiedlichen Seiten und zu verschiedenen Zeiten aus, diesen Fragen nähern wollen:
- „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“ - Die Rolle des UFV 89/90
- „Hauptwiderspruch versus Nebenwiderspruch“ – Die Kontroverse zur Geschlechterfrage in der Linken
- „Ich bin Traktorist“ – Warum Feministinnen Ost und West 89 nicht zusammen kommen konnten
- Und heute? – Zu bestehenden Hierarchien in der Gesellschaft mit besonderem Augenmerk auf oppositionelle linke Gruppen
Wir sind frei, diese Themen zu erweitern oder zu ändern.
(V)Repression, Gegenöffentlichkeit & Zensur
Eingangsfragen:
Was war die besondere Gestalt der Herrschaftstechniken einerseits bürgerlicher und andererseits politbürokratischer Systeme bei der Kontrolle von Öffentlichkeit?
- Repression und Integration
- Rechtssetzung und repressive Toleranz
Was war die besondere Gestalt der jeweiligen Gegenöffentlichkeiten in beiden Systemen und ihre subversive Kapazität?
- Der Fall BRD und DDR
- Zensur in der BRD und Monopolisierung von Öffentlichkeit in der DDR(„Normalzustände“)
- Akteure
Welche Funktion hatten die Medien während der demokratischen Herbstrevolution in der DDR: Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Gesellschaft im revolutionären Umbruch („Der kurze Herbst der Utopie“).
- Piloterfahrung CSSR 1968
- Genesis von Gegenöffentlichkeiten in der DDR
Wandel von Medien und Öffentlichkeit im digitalen Social Media Zeitalter
- Ist ein bürgerlicher Staat wie die BRD heute noch in der Lage seine offizielle Erzählung und Deutung durchzusetzen?
- Erosion des Systems „20:15 Tageschau erklärt wie die Welt funktioniert“
- Welche Chancen für linke Gegenöfflichtkeit liegen hier?
- Welche Gefahren? Siehe Pegida und Co
Schlussfolgerungen:
Gibt es einen politischen Ertrag der Erfahrungen aus dem langen Herbst ´89 in der DDR?
(VI)DDR-Opposition, Mehrheitsgesellschaft und Hegemoniewechsel. Eine Phasenanalyse von emanzipatorischem Aufbruch und deutschnationaler Gegenrevolution
Die heute herrschende Erzählung von der „friedlichen Revolution“ in der DDR geht von einer vorherbestimmten Geschichte aus, bei der der demokratische Aufbruch vom Herbst 1989 gleichsam automatisch im Anschluss der DDR an die Bundesrepublik enden musste. Was die Vertreter*innen der Herrschenden bejubeln, wird zumeist auch von linken Kritiker*innen der „deutschen Einheit vom 3. Oktober 1990 nicht hinterfragt: die Behauptung von der bruchlosen Kontinuität zwischen dem Kampf gegen die Partei-Diktatur der SED und dem Anschluss an Staat und Gesellschaft der BRD. Die „Wende in der Wende“, die tiefen Brüche zwischen dem emanzipatorischen Aufbruch für eine „reformierte DDR“ und dem Anschluss an die BRD sind vergessen oder werden verdrängt.
Im Panel 6 wollen wir in einem revolutionsgeschichtlichen orientierten Diskurs die Etappen und Brüche sowie den Hegemoniewechsel zwischen dem emanzipatorischen und basisdemokratischen Aufbruch im Herbst 1989 und dem Sieg der deutschnationalen Gegenrevolution analysieren, die sich dann im Anschluss an die BRD verwirklichte. Dabei soll der sich verändernde Erwartungs- und Handlungshorizont von Opposition, „arbeiterlicher“ Mehrheitsgesellschaft, Nomenklatura und westdeutscher Politik genauer betrachtet werden, um den Hegemoniewechsel von basisdemokratischer Emanzipation zur Haltung „keine Experimente“ verstehen zu können.
Besonders vier Aspekte sollen in diesem Panel diskutiert und an Hand von Originaldokumenten zusammengetragen werden:
- I. Welche Kenzeichen prägten die Krise der DDR und was bedeuteten Emanzipation und Revolution im Herbst 1989 für Opposition wie für Mehrheitsgesellschaft?
- II. Welchen sozialen Charakter hatte die DDR-Opposition, wie ausdifferenziert war sie politisch und welche Bedeutung hatte sie für den emanzipatorischen Aufbruch der Mehrheitsgesellschaft?
- III. Wie bildeten sich die Phasen des Umbruchs zwischen Sommer 1989 und Volkskammerwahl am 18. März 1990 in der Meinungsforschung ab?
- IV. Welche Gründe lassen sich für die "Wende in der Wende" ausmachen?